Prisma

 
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Kurzgeschichte geschrieben in Zusammenarbeit mit E.B.

 

Der vollbesetzte Lift blieb zwischen dem fünften und sechsten Stockwerk stecken.
“Auch das noch“, hört er sie murren. Ihr verärgertes Gesicht, sonst meistens sanft und verträumt, reißt ihn plötzlich aus seinen eigenen Gedanken. Verunsicherung macht sich bei ihm breit und wie ein Kind, plötzlich von seinen losgelöst Eltern im Kaufhaus nebenan, fängt er panisch zu überlegen an.
Was ist passiert? Was ist zu tun? Was rufen die anderen alle durcheinander?
Geschrei, Hintergrundlärm, überall sich wild bewegende Menschen...Kollegen, aber auch Fremde! Ein Chaos, ein Tumult! Was hilft es da schon, dass Dr. Müller ihm gestern noch empfohlen hat, jeglichen Stress zu vermeiden?
Nur sie....sie schwebt bewegungslos in ihrer energiefreien Zone am Rande dieses beschränkten Raumes. Ihre Augen strahlen eine leichte Verärgerung, nicht mal Aufregung aus. Magisch...fast monumental!
In diesem Moment dringt eine knarrende Stimme aus dem Lautsprecher: „bleiben sie ruhig. Es handelt sich um ein kleines technisches Problem, der Monteur ist bereits unterwegs. Innert kurzer Zeit werden wir sie befreien können.“ Wieder wildes Stimmengewirr. Marcel schaut sich um, aber zwischen all den aufgeregten Menschen kann er sie nicht ausmachen. Wo arbeitet sie wohl? Er sie schon des öfteren gesehen. Bloss hat es nie einen Grund gegeben, sie anzusprechen. Er versucht, sich zu erinnern, ob er ihren Namen schon einmal irgendwo gehört hätte. In diesem Moment beginnt eine Frau unmittelbar vor ihm unkontrolliert zu kreischen und sinkt vor Panik langsam in die Knie. Dort unten weint und schreit sie weiter. Marcel hebt den Blick und schaut direkt in ihre Augen. Seine Knie werden weich.

“Cut!“

Immer wieder wirkt die laute, artikulierte Stimme von Regisseur Enrico befreiend. 
“Break für fünf Minuten. Dann Szene 15, Take 1“
Entspannt und zufrieden verlassen alle Akteure den Fahrstuhl, den kleinen Raum, der jetzt im grellen Licht des Studios plötzlich noch winziger aussieht. Sie wissen: der Italiener, der bereits viele Actionfilme erfolgreich regissierte, ist heute gut zufrieden.
Nur wenige Schritte hat Marcel sich in Richtung Raucherecke entfernt, da klingt hinter ihm, leise aber unverkennbar:
“Bis gleich!“
Er nickt und verschwindet im Pulk der rauchenden Kollegen. Sein Herz rast, ihm wird schwindlig. Was sollte das bedeuten? Was hat diese Frau an sich, dass sie ihn so durcheinander bringt. Er zieht den Rauch der Zigarette tief ein.
Marcel schaut ins Manuskript und bemerkt, dass er für die Szene 15 nicht gebraucht wird. So geht er hinüber zu Enrico und meldet sich für den Rest des Tages ab, es gehe ihm nicht gut. Enrico wünscht ihm gute Besserung.
Draussen weht ein kalter Wind, Schneeregen fegt durch die Strassen. Trotzdem beschliesst Marcel, ein paar Schritte zu Fuss zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Warum bloss geht ihm diese Frau nicht mehr aus dem Kopf? Er erinnert sich an den tiefen Blick eben im Fahrstuhl, ihr Lächeln. Ein nächster kalter Windstoss treibt ihm Tränen in die Augen.
“So ein Sauwetter“, murmelt er. “Und das Mitte August!“
Erst jetzt fällt ihm auf, dass er im dünnen T-Shirt herumläuft und seine Jacke im Studio vergessen hat. Kurz zweifelt er. Nochmal zurück? Bringt das was?
“Brauchst du diese hier?“, klingt es hinter ihm. Neugierig dreht er sich um...und schaut komplett verstarrt in ihre funkelnden Augen...
Dankbar nimmt er seine Jacke entgegen. „Sauwetter“ murmelt er, und „danke“. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragt er: „hast du Lust, mit mir etwas trinken zu gehen?“ Sie nickt und gemeinsam gehen sie in das Café auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Sie trinkt Tee. Plötzlich sind beide sehr still, ein wenig scheu. Aber irgendwann beginnen die Sätze zwischen ihnen zu fliessen, zuerst zaghaft, dann immer mehr. Sie erzählen sich aus ihren Leben. Erst als die Bedienung kommt und sagt, dass sie nun bezahlen müssten, da das Café schliesse, werden sie aus ihrer Versunkenheit gerissen. Als sie auf die Strasse treten, regnet es nicht mehr, aber es ist schon dunkel. 

📱 Triinnngg

Von ihrer Tasche aus durchschneidet der scharfe Ringtone den Abend, und somit die friedliche Stimmung.
Geärgert fragt sie: “Darf ich kurz?“ und ohne auf die Antwort zu warten, entfernt sie sich einige Schritte, gerade hinter das leere ehemalige Haltestellenhäuschen, das laut Insiders heutzutage als begehbare Cachedose eine neue Laufbahn angefangen hat.
“Du sollst mich doch nicht anrufen, Enrico!“, flüstert sie verbissen in ihr Handy. “Was gibt's?“
Die Stimme an der anderen Seite klingt verunsichert, fast panisch.
“Die Männer von Papa Giovanni sind hier. Hast du die Informationen?“
“Wie?“, flüstert sie erschreckt, “bedrohen sie dich?“
“Beeile dich! Es wird ernst! Ich kann nicht viel länger.....“
Und plötzlich bleibt es still. Sie schaut aufs Display, das ihr nichts anderes mitteilt als “Gespräch beendet“. Angespannt, mit bebenden Fingern, steckt sie das Handy in ihre Tasche zurück und sieht, wie Marcel sich unterm Baum an der Straßenkante erneut eine Kippe angezündet hat.
Mit einem „sorry, ich muss schnell ins Studio zurück, Enrico braucht mich“, lässt sie Marcel stehen und verschwindet in der Dunkelheit. Marcel bleibt verdattert zurück. Eben noch hatte er sich überlegt, ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, um sie zu küssen, und nun ist sie weg. Er schlendert ziellos durch die Strassen. Plötzlich bemerkt er, dass er vor dem hellerleuchteten Studio steht, die Tür steht halboffen. Es ist totenstill, kein Laut dringt nach draussen.
Mit einem Mal wird Marcel klar, dass da etwas nicht stimmen kann. Im Studio herrschen immer Lärm und Gerede, wenn gearbeitet wird. Zaghaft geht er zur Tür, schiebt sie ganz auf und erstarrt. Im Studio herrscht ein wüstes Durcheinander, es sieht aus, als hätte ein Kampf stattgefunden, Gläser und Flaschen liegen am Boden, Stühle und Tische sind umgeworfen. Panik erfasst ihn, als er ihren Schal über einem der umgestürzten Stühle entdeckt. Er ist blutverschmiert.
Mit zittrigen Fingern wählt Marcel die Nummer der Polizei.
“Polizeizentrale. Oberwachtmeister Waschewski. Was kann i....“
“Schnell. Bin im Studio. Schicken Sie!!  Streifen. Polizei! ...sofort!!“
Völlig durchgedreht rattert Marcel adrenalingesteuert weiter. 
“Brauche hier Polizei. Ist schlimm. Alles kaputt. Und wo ist sie? Nur Blut. Sonst keiner mehr. So ein....“
“Bitte ruhig!!“, klingt es an der anderen Seite der Leitung streng. 
“Ich frage, Sie antworten jetzt. Klar? Wo sind Sie jetzt?“
Kurz bleibt es still. Marcel hat Waschewskis Frage zwar gehört, aber noch kaum registriert. Sein Blick geht durch die Verwüstung um sich herum. An einem der Stühle fehlt ein Bein. Zwei Flaschen liegen daneben, eine davon war offenbar noch längst nicht leer. 
Plötzlich fällt ihm auf: die Notausgangtür, normalerweise zu, steht nun halb offen. Marcel steht auf, und geht behutsam, immer wieder um sich herum schauend, auf die schwere Metalltür zu. Unterwegs überlegt er sich, ob er da wirklich nachsehen soll. Was, wenn da bewaffnete Leute stehen? Gegen solche kann er sicherlich nichts ausrichten...
Andererseits, vielleicht haben sie ihr etwas angetan und liegt sie jetzt da, in ihrem eigenen Blut.
Er spürt, wie dieser Gedanke Gänsehaut auslöst, und durchquert darum jetzt etwas schneller den Raum.
Kaum hörbar meldet sein Handy, krampfhaft in der linken Hand verstaut:
“Hmm. Wieder so ein Witzbold.“

PIEP.

Vorsichtig schaut er durch den schmalen Spalt. Nur Dunkelheit, sonst nichts. Mit dem Fuss stösst er die Tür etwas weiter auf, guckt wieder. Nichts. Aber dann hört er - ganz schwach - schwere Atemzüge. Bedächtig schiebt er sich durch die Tür, als sein Fuss an etwas Weiches stösst, und der schwere Atem von einem Schmerzlaut unterbrochen wird. Marcel benutzt das Licht seines Handys und entdeckt Enrico, der blutüberströmt am Boden liegt.
"Verdammt!", murmelt dieser mühsam hervor. "Schnell, sie haben sie mitgenommen, sie ist weg, ein dunkles Auto..." Ein mühsames Husten unterbricht seinen Wortschwall. "Du musst....", setzt er noch an, dann wird er bewusstlos. Und Marcel schaut erstarrt auf die blutüberströmte Gestalt zu seinen Füssen.
Er will gerade den Krankentransport anrufen, als die ganze Szenerie in gleissendes Licht getaucht wird und eine scharfe Stimme befielt: "Waffe niederlegen! Umdrehen! Hände gegen die Wand! Und keine Bewegung mehr!"
Erschreckt guckt Marcel in die Richtung der Stimme. Bruchteile einer Sekunde dauert dieser Moment, der sich wie in einer Zeitlupe über eine Ewigkeit erstreckt.
Dann erscheint in seinem Gesicht ein breites Grinsen.
“Den Revolver kenne ich“, spricht Marcel den etwas mageren Kerl, der plötzlich verunsichert wirkt, fröhlich an. “Den gleichen hat sich mein Jüngster bei Toys'R Us zum Geburtstag gewünscht.“
Ohne auf eine weitere Androhung zu warten, fügt er hinzu: “Ich bin unbewaffnet, kann also nichts niederlegen. Aber pass auf! Ich kann Mikado!“
Fast bewegungslos stehen die Kontrahenten sich gegenüber. Dann sieht Marcel, zu seiner großen Erleichterung, wie der dünne Typ mit bebender Hand und zitternder Oberlippe sein Spielzeug senkt, sich schnell umdreht und in die Dunkelheit verschwindet.
“Wozu die Theaterakademie doch alles gut ist“, murmelt Marcel.
Er beugt sich zu Enrico, der wieder zu sich gekommen ist. „Schnell, Marcel, sie sind zu Flughafen. Du musst sie aus den Fängen dieser Leute retten.“ Enrico spricht schnell, als ob er befürchtet, wieder ohnmächtig zu werden, bevor er alles gesagt hat. Marcel hätte gerne viele Fragen gestellt, aber dafür ist keine Zeit.
Jetzt ruft er den Krankentransport und danach für sich ein Taxi. Als er mit dem Taxi Richtung Flughafen davonbraust, sieht er noch, wie der Krankenwagen um die Ecke biegt.
Die Fahrt scheint ewig zu dauern, Staus, rote Ampeln. Endlich sind sie dort. Marcel hat keine Ahnung nach wem und wo er dort suchen soll. Atemlos schaut er sich in der Abflughalle um, ein Gewimmel an Menschen! Er geht in Richtung des Security Check - und plötzlich glaubt er, ihr langes Haar zu sehen! Er rennt zur Glastür, die den Security Bereich abtrennt. Tatsächlich, dort geht sie, oder vielmehr ist sie zwischen zwei Kleiderschranktypen eingeklemmt, die sie gewaltsam durch den Gang schleifen. Ohnmächtig schaut Marcel ihr nach. Bevor sie um die Ecke verschwinden, hebt sie den Kopf und ihre Blicke kreuzen sich.
Ratlos schaut Marcel um sich herum. Was ist zu tun?
Hinter ihm die große Eingangshalle. An den Theken erhalten Reisende unterschiedlichster Herkunft Informationen. Überall sitzen Menschen, offenbar wartend, und spielen mit ihrem Handy herum. Auf der Rolltreppe ein Liebespaar, er ein großer Sechziger, sie eine elegante, kleinere Dame, sich küssend und wohl glücklich im siebten Himmel.
Die Abflugtafel erwähnt für die kommende Stunde nur drei Flüge: nach Moskau, nach Istanbul und nach Bombay. Ob es wirklich dahin geht?
“Die Erde ist eine Kugel“, sagt leise, aber bestimmt und energisch eine Stimme hinter ihm. Sofort dreht er sich um und erkennt einen asiatisch anmutenden älteren Reinigungsmitarbeiter, der ihm im Vorbeigehen noch hinzufügt “Wer ostwärts reist, wird irgendwann aus dem Westen wiederkehren. Sei bereit!“
Letzteres war noch gerade hörbar, weil sich gleichzeitig eine automatische Tür mit der Aufschrift “Staff only“ öffnet, hinter der die Person im Blaumann verschwindet.
Marcel fällt es wie Schuppen von den Augen! Das alles war ein grossartiges Ablenkungsmanöver. Man will ihn glauben machen, dass sie wegfliegen. Wahrscheinlich haben sie EasyJet-Tickets nach Barcelona in der Tasche. Er macht rechtsumkehrt, rennt zur Rolltreppe und stösst fast mit dem älteren Liebespaar zusammen, das ihm vorhin schon aufgefallen war. Er spurtet die Rolltreppe hinunter, zum Ausgang. Einen Moment überlegt er, ob sie wohl bei Ankunft 1 oder 2 rauskommen würde, dann ist es ihm klar. Er stellt sich an eine Ecke und beobachtet den Menschenstrom.
Es dauert eine Viertelstunde, dann kommt sie, bei einem südländisch anmutenden Begleiter eingehakt, und die beiden Kleiderschranktypen schlendern hinterher. Sie unterhält sich locker mit dem Typen, lacht zwischendurch fröhlich auf. So sieht keine Entführung aus!
"Wenn das keine Entführung war, ist sie Täter. Nicht Opfer", blitzt es durch seinen Kopf. Während Marcels Augen das Quartett verfolgen, schaltet sein Hirn turbomäßig: "dann ist Enrico offenbar in großen Schwierigkeiten. Und als Zeuge bin ich auch nirgendwo mehr sicher. Was nun?"
Kurz schaut er ratlos um sich herum. Sein Herzrasen nimmt er gar nicht wahr. Weitere Gedanken sprudeln hervor.
"Die Polizei! Ich muss die Polizei informieren."
Den Griff in seine Hosentasche unterbricht er. Das bringt nichts. Die Polizeinotrufnummer kann er nicht erneut wählen. Wachtmeister Waschewski wird ihm jetzt bestimmt nicht glauben, so geht ihm durch den Kopf.
"Ich muss zur Polizeihauptstelle...jetzt sofort!"
Marcel dreht sich um und geht die hundert Meter im Laufschritt zum nagelneuen Gewerbehochhaus direkt neben dem Terminal. Zehn Stockwerke zählt das hochmoderne Gebäude, das erst vor zwei Monaten fertiggestellt wurde. Die Kriminalpolizei hat sich da in den oberen zwei Stockwerken ein nagelneues Büro eingerichtet, so stand in der Zeitung.
Unten im Foyer warten bereits einige Männer im Maßanzug auf den Fahrstuhl, der laut Anzeigevorrichtung neben der Tür unterwegs zum Parterre ist. Marcel stellt sich unruhig an und schaut nach rechts.
Mit kleinen Schritten nähert sich eine Dame mittleren Alters, die sich vorsichtig zur rechten Türseite begibt und versucht, die Beschriftung zu lesen.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragt Marcel höflich. Für einen Moment kann er sein Anliegen in den Hintergrund verdrängen.
"Dankeschön, aber es geht wohl", antwortet sie mit monotoner Stimme.
"Wissen Sie, jetzt kann ich problemlos alles entziffern."
"War das denn nicht immer so?"
"Oh nein. Bei der Eröffnung waren die Tasten klein, die Beschriftung kaum zu sehen und die Etagenanzeige befand sich weit da oben, über der Tür. Eine sehr aufmerksame Dame des Sehbehindertenverbandes hat dann den Bauleiter angerufen. Und schauen Sie selbst: jetzt ist die Beschriftung groß, der Kontrast ausreichend und die Positionierung so, dass man auch näher herankommt. Das alles hat sie hinbekommen!"

(-TING-)

Die Türen öffnen sich geräuschlos. Hinein gehen die Büroherren, die Dame und er selbst. Einer der Männer drückt auf die 7 und schaut Marcel an. "Die neunte, bitte", antwortet er, ohne auf eine Frage zu warten.
Ebenso geräuschlos schließen sich die Türen, und der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Anfangs langsam, aber bald schon schneller. Die Etagennummern erscheinen im Bedienungsfeld: 1...2...3...4...5..
Plötzlich ein lautes Quietschen! Die Kabine hält mit einem Ruck an.
„Szene 13“, denkt Marcel. Und beginnt schallend zu lachen.